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ADHS im Erwachsenenalter: Alltag, Risiken und der Umgang mit Stimulanzien

  • Autorenbild: Susanne Hermann
    Susanne Hermann
  • vor 2 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

ADHS gehört zu den sogenannten neurodivergenten Verarbeitungsstilen. Das bedeutet nicht, dass das Gehirn „krank“ ist, sondern dass es Reize, Informationen und Emotionen anders verarbeitet als das, was als neurotypisch gilt.

Im Zentrum steht eine Dopamin-Dysregulation. Dopamin ist ein Botenstoff für Motivation, Fokus, Belohnung, Antrieb und emotionale Regulierung. Bei ADHS ist dieses System unteraktiv, was bedeutet:


  • Routinetätigkeiten fühlen sich anstrengender an

  • Belohnungssignale kommen schwächer

  • Motivation entsteht später oder weniger stark

  • der Fokus ist instabil

  • das Gehirn sucht ständig nach innerer oder äußerer Stimulation


Viele Betroffene beschreiben es so: „Ich muss mehr tun, um innerlich dort anzukommen, wo andere schon sind.“

Diese neurobiologische Besonderheit erklärt sowohl die alltäglichen Herausforderungen als auch das erhöhte Risiko für Selbstmedikation und Suchterleben.


Wie ADHS im Erwachsenenalter aussieht

Während Kinder oft durch motorische Unruhe auffallen, zeigt sich ADHS bei Erwachsenen eher durch:

  • innere Unruhe

  • emotionale Überforderung

  • Prokrastination

  • Schwierigkeiten mit Exekutivfunktionen

  • mentale Erschöpfung

  • schnelle Stimmungsschwankungen

  • Reizoffenheit

  • berufliche und zwischenmenschliche Belastungen


ADHS bei Frauen

Frauen werden besonders häufig spät diagnostiziert. Gründe:

  • weniger sichtbare Hyperaktivität

  • eher „leise“ Symptome (Tagträumen, Rückzug, Perfektionismus)

  • starke hormonelle Schwankungen

  • hohe soziale Anpassung

  • internalisierende Problemlagen


Neurobiologie: Was im ADHS-Gehirn passiert


Dopamin

Ein Mangel bzw. eine Dysregulation von Dopamin führt zu:

  • verminderter Belohnungssensitivität

  • Antriebs- und Motivationsschwierigkeiten

  • Impulsivität

  • verstärktem Bedürfnis nach Stimulation

  • emotionaler Instabilität


Noradrenalin

Ein niedriger Noradrenalinspiegel erschwert:

  • Aufmerksamkeitssteuerung

  • Arbeitsgedächtnis

  • Problemlösung

  • kognitive Kontrolle


Dieses Zusammenspiel erklärt, warum Alltagstätigkeiten so viel Energie kosten und warum interessante Tätigkeiten dagegen fast mühelos gelingen.


ADHS und Sucht: Warum das Risiko erhöht ist


Menschen mit diagnostizierter ADHS haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Substanzmissbrauch. Es geht dabei fast nie um „klassisches Suchtverhalten“, sondern um Selbstmedikation.

Alles, was Dopamin kurzfristig hebt, wirkt entlastend:

  • Alkohol

  • Nikotin

  • THC

  • Kokain

  • verschriebene ADHS-Stimulanzien (bei falscher oder unkontrollierter Einnahme)

  • nicht-stoffgebundene Süchte (Gaming, Online-Shopping, Social Media, riskantes Verhalten)

Das ADHS-Gehirn sucht Beruhigung, Fokus oder emotionale Stabilität, nicht Rausch.


Missbrauch von Stimulanzien bei diagnostizierter ADHS


Auch Menschen, die ADHS-Medikamente korrekt verordnet bekommen, können diese (zeitweise) missbräuchlich einsetzen.


Warum Betroffene in ein Missbrauchsmuster rutschen können


  • hohe Belastung oder Stress

  • das Gefühl, ohne „zusätzliche Dosis“ nicht zu funktionieren

  • starker Dopaminhunger

  • Druck im Beruf oder im Studium

  • emotionale Dysregulation

  • unregelmäßige Einnahme

  • komorbide Depression, PTBS, Borderline-Symptomatik

Das geschieht nicht aus „Abhängigkeit“, sondern als Versuch der Selbstregulation.


Therapeutische Stimulanzien machen nicht süchtig


Studien zeigen:

  • regulär verordnete Stimulanzien erhöhen nicht das Suchtrisiko

  • sie reduzieren langfristig sogar die Gefahr von Substanzmissbrauch

  • Missbrauch entsteht vor allem bei falscher Dosierung oder fehlender Begleitung


Diagnostik (ICD-11) im Erwachsenenalter


Wesentliche Kriterien:

  • Symptome seit Kindheit oder Jugend

  • deutlich ausgeprägte Einschränkungen im Alltag

  • Kriterien für Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität

  • Längs- und Querschnittsdiagnostik

  • strukturierte Interviews (DIVA-5)

  • Screening-Instrumente (ASRS)

  • wichtige Differenzialdiagnosen: Depression, Angststörungen, Borderline, PTBS


Häufige Begleitdiagnosen


  • Depression

  • Angststörungen

  • Substanzmissbrauch

  • Persönlichkeitsstörungen

  • Essstörungen

  • Schlafstörungen

  • Autismus-Spektrum-Störungen

  • komplexe Traumafolgestörungen


80 % aller Erwachsenen mit ADHS haben mindestens eine weitere psychische Diagnose.


Stärken von Menschen mit ADHS


  • Kreativität

  • Energie

  • Begeisterungsfähigkeit

  • Fähigkeit zum Hyperfokus

  • Mut und Risikobereitschaft

  • ungewöhnliche Lösungsansätze

  • schnelles Denken

  • Improvisationsfähigkeit

  • hohe Einfühlsamkeit


Diese Ressourcen zeigen, dass ADHS weit mehr ist als eine Sammlung von Symptomen.


Therapie und Unterstützung


Medikamentöse Therapie

  • Methylphenidat

  • Lisdexamfetamin

  • Atomoxetin

  • Bupropion

  • Guanfacin


80 % sprechen gut auf Stimulanzien an.


Hilft besonders bei:

  • emotionaler Regulation

  • Selbstwert

  • Stress- und Impulsmanagement

  • Beziehungsgestaltung

  • Komorbiditäten


Alltagsstrategien

  • kurze, planbare Arbeitseinheiten

  • Belohnungssysteme

  • klare Tagesstruktur

  • Reizreduktion

  • Bewegung

  • digitale Tools

  • Ernährung & Mikronährstoffe


Wenn Sie spüren, dass sich einzelne Beschreibungen auf Ihr eigenen Erleben beziehen, oder Sie unsicher sind, was sie bedeuten könnten, kann ein gemeinsames Gespräch sehr entlastend sein.

Ich bin gerne für Sie da, für eine erste Orientierung, zur Entlastung und um gemeinsam mehr Klarheit über Ihre derzeitige Situation zu gewinnen.

Ich begleite Menschen mit ADHS ebenso wie andere neurodivergente Menschen die mit Herausforderungen wie Erschöpfung, Selbstregulationsschwierigkeiten, Suchtmustern oder emotionaler Überforderung zu tun haben.


Quellen & weiterführende Literatur


Internationale Leitlinien & Klassifikationen

  • Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN): Leitlinie ADHS im Erwachsenenalter

  • National Institute for Health and Care Excellence (NICE): ADHD – Diagnosis and Management

  • European Network Adult ADHD (ENAA): Empfehlungen zur Diagnostik und Behandlung

  • Weltgesundheitsorganisation (WHO): ICD-11 – Klassifikation mentaler und Verhaltensstörungen

Anerkannte Fachliteratur

  • Barkley, R. A.: Attention-Deficit Hyperactivity Disorder: A Handbook for Diagnosis and Treatment

  • Kooij, J. J. S.: ADHS bei Erwachsenen – Diagnose und Behandlung

  • Sobanski, E.: ADHS im Erwachsenenalter – Klinische Aspekte, Komorbiditäten und Therapieoptionen

  • Faraone, S. V. et al.: World Federation of ADHD – International Consensus Statement

ADHS & Substanzgebrauch

  • Wilens, T. E.: ADHD and Substance Use Disorders – The Nature of the Relationship

  • van Emmerik-van Oortmerssen, K. et al.: Substance Use Disorders in Adult ADHD – Epidemiology and Treatment

  • Asherson, P. & Young, S.: ADHD and the Risk for Addictive Behaviour

Neurobiologie & dopaminerge Mechanismen

  • Volkow, N. D. et al.: Arbeiten zur dopaminergen Dysregulation bei ADHS

  • Arnsten, A. F. T.: Forschung zur Rolle von Dopamin und Noradrenalin im präfrontalen Cortex

Diagnostik & Screening

  • DIVA Foundation: DIVA-5 – Diagnostisches Interview für ADHS bei Erwachsenen

  • Adler, L. et al.: ASRS – Adult ADHD Self-Report Scale (WHO/Harvard)

Hinweis

Die Inhalte dieses Artikels basieren auf internationalen Leitlinien (NICE, DGPPN, ENAA, WHO ICD-11), auf wissenschaftlich anerkannten Standardwerken (u. a. Barkley, Kooij, Sobanski, Faraone, Wilens, van Oortmerssen) sowie auf aktuellen neurobiologischen Erkenntnissen zu Komorbiditäten, Suchtrisiken und Therapieansätzen im Erwachsenenalter.

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