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Zwangsstörungen aus gestalttherapeutischer Sicht: Wenn Kontrolle zum Überlebensversuch wird

  • Autorenbild: Susanne Hermann
    Susanne Hermann
  • vor 1 Tag
  • 3 Min. Lesezeit

Zwangsstörungen wirken nach außen oft wie ein rätselhaftes Muster aus Handlungen und Gedanken, das niemand wirklich versteht, nicht einmal die Betroffenen selbst.

Aus gestalttherapeutischer Sicht zeigt sich darin jedoch etwas Wesentliches:

ein Mensch, der versucht, im inneren Chaos Halt, Orientierung und Sicherheit zu finden.

Zwänge entstehen nicht aus Willensschwäche. Sie entstehen dort, wo die psychische Belastung zu groß wird, um sie direkt zu spüren, zu benennen oder auszuhalten. Die Handlung, das Ritual, das gedankliche Kreisen, das Wiederholen, wird zu einem provisorischen Halt, einem inneren Geländer.

Sie vermittelt Kontrolle in einem Moment, in dem sich im Untergrund ein Gefühl der Haltlosigkeit zeigt.

In der integrativen Gestalttherapie interessiert uns nicht zuerst das Symptom, sondern der Mensch dahinter: Wovor schützt der Zwang? Welche Gefühle werden reguliert? Welche früheren Erfahrungen haben gelehrt, dass Sicherheit nur durch Kontrolle möglich ist?


Zwänge sind oft kreative Anpassungen, die in schweren Lebensphasen einmal hilfreich waren und heute zu einer Belastung geworden sind. Ihre Wurzel liegt häufig in früheren Beziehungserfahrungen, in Situationen von Überforderung, Unsicherheit, Verlust oder Verantwortung, die zu groß waren für ein Kind oder einen jungen Menschen. Die innere Alarmanlage, die damals entstand, ist heute immer noch aktiv, nur ohne den ursprünglichen Kontext.

Im therapeutischen Prozess begegnen wir dem Zwang nicht mit Druck oder dem Anspruch, ihn sofort zu verändern. Vielmehr nähern wir uns langsam der Stelle, an der die innere Not sichtbar wird. Gestalttherapie bedeutet, die unterbrochenen Stellen des Erlebens wieder wach werden zu lassen: Gefühle, die lange keinen Platz hatten; Gedanken, die zu gefährlich wirkten; Körperempfindungen, die eingefroren waren. Dieses Wiedererleben geschieht niemals forciert, sondern in einer achtsamen, haltgebenden Beziehung zwischen Therapeut:in und Klient:in.


Die therapeutische Beziehung: Kontakt, Grenzen und Sicherheit

Gerade bei Zwangsstörungen spielt die therapeutische Beziehung eine zentrale Rolle. Viele Betroffene haben über Jahre hinweg gelernt, ihre innere Welt streng zu regulieren, weil spontane Nähe, Verletzbarkeit oder emotionale Resonanz einmal zu viel waren. Die Kontaktgrenze ist daher oft sehr fein eingestellt. Sie schützt und isoliert zugleich.

Die gestalttherapeutische Arbeit bietet einen Raum, in dem diese Kontaktgrenze respektiert wird, ohne sie zu übergehen. Die Beziehung wird zum sicheren Boden, auf dem neue Erfahrungen möglich werden: dass Nähe weder überfordernd noch bedrohlich sein muss, dass Dasein ohne Funktionieren möglich ist, dass eine Begegnung stattfinden kann, ohne bewertet zu werden.

Im therapeutischen Dialog entsteht oft zum ersten Mal seit langer Zeit ein Gefühl von Resonanz, erlebt als leise Erleichterung, als „Ich darf hier so sein, wie ich bin.“

Diese Form von Beziehung wirkt therapeutisch, weil sie einen inneren Gegenpol zu jener alten Einsamkeit bildet, die so viele Menschen mit Zwängen kennen.


Veränderung im eigenen Tempo

Mit der Zeit kann im therapeutischen Raum die Möglichkeit entstehen, sich selbst differenzierter wahrzunehmen ohne gleich handeln zu müssen. Zwänge verlieren dadurch nicht ihre Existenz, aber sie verlieren ihre Ausschließlichkeit. Viele Betroffene erleben, dass sich innerlich ein kleiner Spielraum öffnet:

Momente, in denen sie wählen können, anstatt automatisch zu reagieren.

Dies ist ein leiser, aber bedeutsamer Prozess. Die innere Welt wird weniger eng, die Not weniger drängend, und die Fähigkeit, mit sich selbst im Kontakt zu bleiben, wächst. In der integrativen Gestalttherapie geht es nicht um abrupte Veränderung oder darum, den Zwang zu bekämpfen. Vielmehr steht das Verstehen im Vordergrund: Vor

was will der Zwang schützen? Welche Gefühle liegen darunter? Welche Möglichkeiten entstehen, wenn diese Gefühle im sicheren Kontakt Raum bekommen?

Gestalttherapie arbeitet mit Achtsamkeit, Präsenz, Neugier und Beziehung.

Dadurch entsteht ein innerer Boden, auf dem neue Erfahrungen möglich werden im eigenen Tempo.


Wenn Sie unter Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen leiden oder möglicherweise beides erleben

Wenn Sie merken, dass dies Ihren Alltag belastet, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Gemeinsam erkunden wir, was hinter dem inneren Druck liegt und welche neuen Wege für Sie möglich werden können.


Quellen & Literatur

  • Perls, F., Hefferline, R., & Goodman, P. (1994). Gestalt Therapy: Excitement and Growth in the Human Personality.

  • Hycner, R., & Jacobs, L. (1995). The Healing Relationship in Gestalt Therapy.

  • Beisser, A. (1970). The Paradoxical Theory of Change. Gestalt Journal.

  • Wheeler, G. (1996). The Voice of Shame.

  • NICE Guidelines (2022): Obsessive-Compulsive Disorder: Treatment.



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