Wenn Leben & Sterben einander begegnen
- Susanne Hermann
- vor 2 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 1 Tag
Palliativ-Care beginnt nicht erst am Lebensende. Sie beginnt dort, wo die Diagnose oder der Verlauf einer Erkrankung das Leben so verändert, dass der Blick auf das Wesentliche schärfer wird und gleichzeitig vieles brüchig erscheint. Für manche Menschen ist es der Moment, in dem klar wird, dass keine Heilung mehr möglich ist. Für andere ist es eine schleichende Erkenntnis, die sich über Monate oder Jahre verdichtet.
Palliativpsychotherapeutische Begleitung findet mitten in diesen Zwischenräumen statt dort, wo Hoffnung und Sorge gleichzeitig existieren, wo Nähe manchmal schwer auszuhalten ist, und wo der Alltag in seine kleinsten Bestandteile zerfällt, weil alles plötzlich eine andere Bedeutung bekommt.
Total Pain: Wenn Schmerz mehr ist als ein Symptom
Cicely Saunders prägte den Begriff Total Pain, um erkennbar zu machen, dass Schmerz in der letzten Lebensphase nie nur körperlich ist.
Er umfasst ebenso:
psychische Dimensionen wie Angst, Überforderung oder das Gefühl, innerlich auseinanderzufallen
soziale Aspekte wie veränderte Rollen, Einsamkeit, Abhängigkeit oder Konflikte in Beziehungen
spirituelle Fragen nach Sinn, Schuld, Abschied oder dem, was nach dem eigenen Leben bleibt
In der psychotherapeutischen Begleitung begegnen mir diese Ebenen oft gleichzeitig. Manchmal äußert sich körperlicher Schmerz in Worten, die eigentlich Angst meinen. Manchmal steckt hinter innerer Unruhe ein Thema, das tief mit Würde oder Autonomie verbunden ist und manchmal findet sich in einem erschöpften Atemzug ein unausgesprochener Wunsch nach Frieden.
Beispiele aus der Praxis (anonymisiert):
Fall A: Zwischen Rückzug, Überforderung und dem Wunsch, nicht zur Last zu fallen
Vor einigen Monaten besuchte ich einen Mann um die 70 Jahre alt, der an einer fortgeschrittenen Organerkrankung litt. Die körperlichen Schmerzen waren inzwischen gut eingestellt, doch innerlich rutschte er immer weiter weg. Er sprach kaum noch, zog sich zurück, ließ niemanden mehr nahe an sich heran. Seine Frau fühlte sich hilflos und schuldig, weil sie glaubte, etwas falsch zu machen.
Im Gespräch zeigte sich, dass er weniger unter dem nahenden Sterben litt, sondern unter der Vorstellung, für seine Familie zur Last zu werden. Sein Total Pain war nicht körperlich, sondern existenziell. Wir sprachen darüber, wie schwer es für ihn war, den Rollenverlust zu erleben vom sorgenden, starken Familienvater hin zu jemandem, der auf Hilfe angewiesen war. Als er es aussprechen konnte, lockerte sich etwas in ihm. Die Spannung im Raum wurde weicher, die Blicke zwischen ihm und seiner Frau offener. Für ihn war es der Beginn von ein wenig innerem Frieden und für sie das erste Mal seit Wochen ein Gefühl von Verbindung.
Solche Momente entstehen nicht durch schnelle Lösungen, sondern durch eine Form von gemeinsamer Präsenz: Da-Sein, Mitgehen, Aushalten, Zuhören, ohne etwas erzwingen zu wollen.
Fall B: Zwischen Liebe, Ohnmacht und einer Entscheidung, die alles verändert
Eine Frau Mitte sechzig begleitete ihren Ehemann, der seit Jahren mit einer unheilbaren, fortschreitenden Erkrankung lebte. Die körperlichen Einschränkungen nahmen zu, die Schmerzen wurden intensiver und sein Gefühl von Autonomie wurde immer kleiner. Eines Tages äußerte er ihr gegenüber den Wunsch nach einem assistierten Suizid.
Für ihn bedeutete dieser Wunsch vor allem eines: nicht länger leiden zu müssen, nicht mehr abhängig zu sein, Kontrolle über das eigene Sterben zurückzugewinnen. Für sie dagegen war dieser Gedanke kaum auszuhalten. Sie fühlte sich überrollt, schuldig, verletzt, als hätte er die gemeinsame Geschichte, die Liebe, das Versprechen des Beisammenseins infrage gestellt. Sie konnte weder mit dem Wunsch gehen noch ihn verbieten und blieb in einem emotionalen Raum gefangen, der gleichzeitig voller Liebe und voller Verzweiflung war.
Im Gespräch wurde deutlich, dass hinter ihrem Widerstand keine Ablehnung seiner Situation stand, sondern tiefe Angst, ihn zu verlieren und das Gefühl, im entscheidendsten Moment nicht genug gewesen zu sein. Hinter seinem Wunsch lag weniger ein Todeswille als der Wunsch nach Würde und nach einem Ende, das er selbst bestimmen kann.
Durch die psychotherapeutische Begleitung entstand ein Raum, in dem beide Perspektiven nebeneinander existieren durften. Kein Druck, kein „Richtig“ oder „Falsch“, sondern das gemeinsame Aushalten zweier vollkommen unterschiedlicher innerer Landschaften. Erst als sie spürte, dass sie nicht dafür verantwortlich war, seine Entscheidung zu tragen, sondern nur dafür, ihre eigene auszuhalten, konnte sie ihm wieder näherkommen. Er konnte zum ersten Mal darüber sprechen, wovor er wirklich Angst hatte: dem Sterben im Kontrollverlust, dem Zur-Last-Fallen und dem Verlöschen seines Selbstwertgefühls.
Es war kein versöhnliches Happy End, sondern ein Moment echter Begegnung in der Art, die in palliativen Situationen oft leise beginnt und dennoch alles verändert.
Raum für Belastendes, Verborgenes und Bedeutsames
Palliativpsychotherapie schafft einen Ort, an dem das unausgesprochene Gewicht dieser Zeit Platz finden darf. Es geht darum, das zu halten, was innen drückt, ohne es zu verkleinern. Angst, Wut, Zweifel, Erschöpfung, Dankbarkeit, Liebe, Schuld, Sehnsucht, oft liegen sie eng beieinander.
In manchen Gesprächen geht es um die Vergangenheit, in anderen um das Jetzt. Und manchmal entsteht der Wunsch, dem Leben noch einmal Gestalt zu geben. In solchen Situationen fließen auch würdezentrierte Elemente ein, wie sie in der würdeorientierten Therapie beschrieben werden: Menschen reflektieren das, was sie geprägt hat, was ihnen wichtig war, was sie hinterlassen möchten. Manchmal entsteht daraus ein Vermächtnis:
ein dokumentiertes Stück Lebensgeschichte, das Angehörigen Trost geben kann.
Begleitung bis zuletzt – und darüber hinaus
Ich begleite Menschen mit lebensverkürzenden Erkrankungen und ihre Angehörigen in Momenten der Stille, in Zeiten der Überforderung, in Gesprächen am Bett oder im Wohnzimmer, in Phasen des Abschiednehmens oder der Neuorientierung.
Wenn Sie spüren, dass ein Gespräch entlastend sein könnte, Orientierung bietet oder einfach Raum für das schafft, was in Ihnen schwer geworden ist, stehe ich Ihnen gerne zur Seite.
Die Gedanken in diesem Beitrag basieren auf meinem Verständnis von Palliativ-Care, dem Konzept des Total Pain, Elementen der würdezentrierten Therapie nach Harvey Max Chochinov und der Erfahrung, die ich über viele Jahre in der psychotherapeutischen und psychoonkologischen Begleitung gesammelt habe.